Oktopusgeschichten

Oktopusgeschichten

Die „Oktopusgeschichten“ sind nicht nur Geschichten, die ich geschrieben habe, sie sind auch meine Geschichte. Zumindest irgendwie – Ich habe sie nicht selbst erlebt und gleichzeitig hat mein Selbst sie erlebt, eines meiner Selbsts. Davon habe ich nämlich einige, denn ich habe eine „Dissoziative Identitätsstörung“, eine Störung, bei welcher sich mehrere „Ichs“ einen Körper teilen.

 

Kein Mensch kommt auf die Welt mit einem einzigen, gefestigten Ich. Am Anfang kennen wir nur Zustände wie müde oder hungrig oder zufrieden, wir können sie noch nicht verstehen als ein „Ich“. Erst mit der Zeit, bis wir etwa fünf Jahre alt sind, „wachsen die Seelen zusammen zu einer, und das Kind wird diese Seele ‚Ich‘ nennen“, so erkläre ich in den Oktopusgeschichten. Aber bei manchen Menschen, da wachsen ihre vielen Zustände nie zu einem zusammen, sondern leben getrennt voneinander im gleichen Körper, werden jeweils ein eigenes „Ich“. 

Das ist weder Zufall noch eine Entscheidung, es ist ein Überlebensmechanismus. Es gibt Dinge auf dieser Welt, die so schmerzhaft sind, dass man mit ihnen eigentlich nicht leben kann. Wie soll man leben, als kleines Kind, wenn die Hand, die am Tag die eigene hält, die gleiche ist, die sich nachts an all den falschen Stellen seines Körpers einbrennt? Man kann nicht die Hand und gleichzeitig das Wissen über ihre Taten halten, doch loslassen kann man sie nicht, wenn man zu klein ist, um alleine auf der Welt zu sein. Also lässt man nicht die Hand, sondern das Wissen los. Man hält den Zustand, der das Wissen trägt, getrennt von dem, der den Alltag lebt. Und so hat man nie die Chance, aus all den Zuständen ein „Ich“ zu formen: „Die fröhliche Seele wird nichts von der traurigen wissen und nichts von der zornigen, so wenig wie diese von ihr. Jede Seele wird sich ‚Ich‘ nennen, ohne zu wissen, dass der Körper noch ganz viele andere ‚Ichs‘ beherbergt“.

 

So versteckt man das untragbare Wissen vor sich selbst, für eine lange, lange Zeit, aber die Ichs hinterlassen Spuren im Leben der anderen, denn irgendwie sind diese Leben ja doch alle eins. 

Ich selbst bin ein Ich von vielen in meinem Körper, und lange wusste ich nichts von den anderen und viele von ihnen wussten nichts von mir, oder irgendjemand anderem in unserem Körper. Aber natürlich waren die anderen trotzdem da. Deshalb fand ich immer wieder Dinge unter meinen Sachen, von denen ich nicht wusste, wo sie herkamen, auf meinem Schreibtisch lagen dauernd Bilder, die ich nicht gemalt hatte, und meine Freund*innen erzählten von gemeinsamen Erlebnissen, die ich nicht erlebt hatte. Weil ein anderes Ich sie erlebt hat, gemalt hat, gekauft hat.

 

Erst als ich einundzwanzig Jahre alt war, konnte mir jemand erklären, warum ich so viel nicht weiß, das war meine damalige Therapeutin. Ich wollte zwar eine Erklärung, aber ich wollte nicht diese Erklärung. Denn das würde heißen, dass ich nicht nur nicht weiß, woher mein neues Paar Schuhe kommt, sondern dass ich auch nichts weiß von grausamen Dingen, die früher passiert sein müssen. „[Weißt du], Oktopus-Menschen kommen nicht auf die Welt wie alle anderen. Sie entstehen nur auf dem Grund der tiefsten See, dort, wo alles dunkel ist, und fast zerbricht unter der Last der Wogen. Ich weiß, ich muss einst dort gewesen sein, an diesem Ort, auch wenn ich mich nicht an ihn erinnere, sonst wären die Oktopus-Menschen nicht bei mir. Deshalb wünschte ich, sie wären nicht hier, wenn du verstehst, was ich meine“. Ich wollte also nicht glauben, dass es die anderen gibt, vor allem nicht, dass es ihre Geschichte(-n) gibt, aber sie fingen an, sich zu zeigen und zu erzählen. So sehr ich auch vor ihnen fortrennen wollte, irgendwann konnte ich nicht mehr, denn am Ende war es nur ein Versuch, vor mir selbst zu flüchten, und sich selbst nimmt man bekanntlich immer mit. Also habe ich gelernt, zuzuhören, mir erzählen zu lassen. 

Mit jedem Wort, das mir erzählt wurde, musste auch ich mehr erzählen. Mit jedem Wort, das mir erzählt wurde, wurden die Worte, die ich erzähle, mehr zu der Luft, die ich atme: „[Ich möchte] dir berichten von [diesen Zeiten], denn sie sind kompliziert und verstrickt. Ich will sie in Buchstaben packen, die sich in einer gerade Linie auf dem Papier niederlegen, bis alle Knoten aus ihnen verschwinden, bis all die Angst und Trauer eingepackt sind in tiefer Tinte.“ Also habe ich erzählt, von all dem Grauen, ich habe erzählt, immer und immer mehr. Erst nur dem Papier, doch ich habe gelernt, dass sich das Grauen nicht in ein paar Buchstaben bannen lässt. Die Worte können das Grauen nicht nehmen, nicht komplett in sich aufnehmen, aber eines können sie: Sie können mich weniger einsam machen damit. Deshalb habe ich irgendwann nicht nur dem Papier erzählt, sondern den Menschen, denen ich vertraue, und irgendwann allen, die es hören wollten und vielleicht ein paar mehr. Und ich habe gelernt, dass nicht nur ich weniger einsam werde durch das Erzählen, sondern wir alle. Nicht nur wir alle in diesem Körper, auch die, denen ich erzähle, wenn die Worte über mein Grauen vielleicht ihres berührt, das tief innen versteckt liegt und sonst stets unberührt bleibt. 

Deshalb lege ich meine Worte heute in fremde Hände. Weil ich zwar nicht weiß, was dort mit ihnen geschehen wird, aber ich weiß: Vielleicht berühren sie etwas sonst Unberührtes in dem, der sie liest. Vielleicht darf sich durch diese Worte das in uns allen berühren, was wir versteckt halten und was uns so einsam macht. Vielleicht sind wir alle am Ende nicht weniger entsetzt von unserem Grauen, aber weniger einsam. So sehr es mich auch ängstigt, so sehr bin ich dankbar für das Privileg, unsere Geschichten teilen zu dürfen. 

 

 

 

 

Wer weiß, vielleicht darf ich sie ja auch mit dir teilen, und vielleicht sind wir dann beide weniger einsam, du und ich. 

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